Wer von uns will nicht mehr vom Leben haben und weniger arbeiten?
Das Leben besteht nicht nur aus Arbeit!
Als ehemaliger Workaholic ist mir diese Erkenntnis erst recht spät bewusst geworden, weil Arbeit mein Leben definierte und auch aufgrund der vielen und weltweiten Wohnortswechsel hin zu Kunden, reifte irgendwann die Erkenntnis, dass ich keine zwanzig mehr bin und irgendwo ankommen sollte. Deshalb ging ich zurück nach Österreich, meiner Heimat und unterlasse es 18 Stunden am Tag zu arbeiten und sehr wenig zu schlafen. Nicht, dass ich irgendwann ausbrannte, aber Corona half mir, mein Dasein etwas anders zu sehen, weil Aufträge sich enorm hinzogen, oder sehr verzögert stattfanden.
Plötzlich hatte ich Zeit, aber ich wusste eigentlich kaum etwas damit anzufangen. Es erinnerte mich an meinen Vater, der pensioniert, kaum wusste mit der neuen Zeitmenge umzugehen, oder an befreundete Manager, die in der Pension den Garten malträtierten, um irgendwie etwas zu tun.
Mir war mein kulturloses Leben bis dahin nicht aufgefallen und dies als Kunsthistoriker, eigentlich ein Wiederspruch in sich.
Also begann ich mehr zu leben.
Diese negativen Vorbilder, die aus meiner Sicht jedenfalls, fast überall vorherrschten, zeigten mir neben meinem zugegeben stressigen Job und Berufung, dass das Leben aus Arbeit besteht und man sich genau darüber definiert. Mit etwas Distanz betrachtet, habe ich mein Leben lang als Berater anderen geraten, Pausen einzulegen, nicht zu viel und zu lange zu arbeiten, … und ich!?
Eine Pandemie musste mir aufzeigen, dass es auch anders gehen kann und seither bemühe ich mich, nicht wieder in das alte Muster zu verfallen. Manchmal besser, manchmal schlechter, aber mit Tendenz zu besserer Verteilung!
Als Berater höre ich von Work-Life-Balance laufend und dies manchmal mit einem unverständigen Unterton. Dabei steht fast keiner von uns gerne früh auf, nur um jeden Tag pünktlich zur Arbeit zu gelangen und danach völlig erschöpft nach Hause zu torkeln, um das Wochenende zu ersehnen, als eine Art Rettungsanker vor der völligen Erschöpfung. Natürlich gilt dies nicht für alle arbeitenden Menschen, aber doch für einige. Gerade Eigentümer geführte Unternehmen sind manchmal ohne Verständnis für diese „Entwicklung“, welche sie jungen Menschen andichten, obwohl dieses Thema seit Beginn der Industrialisierung existiert, aber anders bezeichnet wurde.
Komischer Weise ist seit der drakonischen Arbeitszeit des 19. Jahrhunderts die Produktivität kontinuierlich gestiegen und überhaupt nicht zurück gegangen. Auch seriöse 4 Tage Wochen-Experimente zeitigen, nach einer gewissen Umstellungszeit, mitunter Erfolge.
Also spräche Einiges dafür, Work-Life-Balance ernst zu nehmen und nicht nur deshalb, weil sonst Arbeitskräfte fehlen würden. Diese Diskussion ist seit langem überfällig und durch die neueren Machtverhältnisse zugunsten der aktuellen und künftigen Mitarbeiterschaft unausweichlich!
Auch aus Sicht der Hirnforschung, die meine Arbeit dominiert, spricht sehr viel für freiere Zeiteinteilung und oft kürzere Arbeitszeiten.
Die zunehmende Digitalisierung und somit Neuorganisation der Gesellschaft, spielt hier eine nicht zu unterschätzende Rolle. Siehe KI und Robotik und bedingungsloses Grundeinkommen.
Dadurch werden andere Skills gefordert, wie soziale Intelligenz, oder Kreativität und beiden gedeihen in einem durch Stress geprägten Umfeld eher nicht zum Vorteil des Unternehmens. Stress bedeutet Angst und bei Angst denken wir naturbedingt sehr einfach: Flucht, oder Angriff, oder Resignation. Keines davon ist im Sinne eines Unternehmens, aber auch nicht im Sinne jeder arbeitenden Person!
Auch der Klimawandel trägt dazu bei, dass nicht nur junge Menschen immer stärker eine Art Zukunftsangst haben, welche ebenfalls dafür Mitverantwortung zeitigt, wie sich die Sicht auf Arbeit, … entwickelte und weiter entwickeln wird.
Aber, ist es nicht eigentlich ein Fortschritt, wenn nicht nur Erwerbsarbeit zählt, sondern auch Life?
Ist dies nicht eigentlich ein Wunsch der meisten Menschen?
Fast alle medizinischen und neurowissenschaftlichen Befunde zeigen uns, wie wichtig ein gutes Maß an Arbeit und Leben ist.
Noch dazu, ist ein Arbeitsvertrag eine Willenserklärung beider Parteien und nicht die einseitige Willenserklärung eines Arbeitgebers. Natürlich auch nicht umgekehrt, wie sich aktuell bei manchen Verträgen zeigt.
Sind nicht gerade die skandinavischen Länder erfolgreicher, weil dort Funktionszeitmodelle, oder gar Vertrauensarbeitszeitmodelle zum Teil wirken?
Als HR-Berater hatte ich vor Jahren ein produzierendes Unternehmen betreut, welches zwei Produktionen mit fast gleicher Ausrichtung betrieb. Eines stand nahe Flensburg auf deutscher Seite und eines knapp über der Grenze in Dänemark. Ganze 6 km trennten die beiden Einheiten. Produktiver und damit auch lukrativer war das Werk in Dänemark, obwohl dort die MitarbeiterInnen viel teurer waren und obwohl diese gingen, sobald sie mit der Arbeit fertig waren! Keine Stechuhr, wie auf der deutschen Seite, wo strikt nach Stechuhr gearbeitet wurde. Manchmal gingen die Dänen sogar schon um 11 Uhr vormittags, weil sie mit der Arbeit fertig waren, die Sonnen genießen wollten, …
Aber natürlich war ihr Arbeitsablauf völlig anders als bei den deutschen KollegInnen. Sie hatten Mitspracherechte bei der Arbeitsstrukturierung und waren im Schnitt wesentlich entspannter und kreativer als ihre deutschen KollegInnen.
Dies gespeist aus Erkenntnissen, die wir mindestens seit den 1930 -igern kennen! (Human Relations Movement, mit zum Beispiel Elton Mayo)
Aus einer durchaus wissenschaftlich unterlegten Sichtweise der Human Relations, sind Arbeitszeitmodelle, abgesehen von Funktionsarbeitszeitmodellen sinnentleert, sehr verkürzt beschrieben. Der Mensch braucht keinen Zwang und keine Arbeitszeitvorgaben, um produktiv zu sein. So zumindest deren Herangehensweise und Forschungsergebnisse, die bei näherer Betrachtung durchaus Sinn ergeben.
Deren Untersuchungen, wie beispielsweise das Hawthorne-Experiment 1930, zeigten, dass eigenständiges Arbeiten (sehr verkürzt natürlich) dazu beiträgt, produktiver auch im Sinne eines Unternehmens zu werden. Insbesondere Pausen ergaben hervorstechende positive Ergebnisse damals.
Seither beweisen immer wieder einzelne Unternehmen und Organisationen, dass an dieser Sichtweise etwas dran sein muss und eventuell orientiert sich unsere Jugend, … unbewusst, oder bewusst an dieser anderen Herangehensweise, die uns Menschen eventuell mehr Sinn, Ausgeglichenheit, Gesundheit, Sicherheit und Freude bringen könnte.
Manche Befunde der probeweise eingeführten echten 4 Tage Woche (ohne 12 Stundentage) zeigen Produktivitätssteigerungen und somit positive Ergebnisse für beide Seiten, ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen in der Gesamtbetrachtung.
Seit mehr als 30 Jahren habe ich diese Herangehensweise in unterschiedlichsten Unternehmen, sofern möglich, durchgesetzt und deren Erfolg fußt teilweise auf diesem einfachen Strukturwechsel, auch wenn es manchmal etwas länger dauerte und dies nicht für alle Branchen und Situationen anwendbar ist. Gesetzliche Rahmenbedingungen erschweren die Umsetzung ebenso, wie kulturelle Gegebenheiten und natürlich unser wirklich überkommenes Bildungssystem, neben weiteren Faktoren.
Oft geht es um Wertschätzung und weniger um zeitliche Aspekte, aber unser Gehirn ist nicht den ganzen Tag über in Höchstform. Noch dazu spielen neben anderen Faktoren natürlich, Chronotypen eine sehr wesentliche Rolle. Nicht jede/r ist von Haus aus FrühaufsteherIn und meistert gleich ab 8 Uhr wichtige Aufgaben. Spätaufsteher sind nicht faul, nur weil sie so früh noch nicht wirklich aufnahmefähig sind! Viele tradierte Vorurteile überlagern unsere Vorstellungen von Arbeit.
Als Berater einer größeren Eigentümer geführten Hotelkette klassischer Ausrichtung, wurde mir bewusst, dass die Vorstellungen der Eigentümerfamilie mit der Realität wenig zu tun hatte. Auch wenn diese Familie sich mit ihrem gesamten Herzblut für die Hotels und deren Gäste einsetzte, so konnte sie dies von ihren MitarbeiterInnen nicht verlangen. MitarbeiterInnenmangel war an der Tagesordnung und statt von diesen Vorstellungen abzulassen, manövrierte man sich weiter und weiter in diese offensichtliche Sackgasse. Zum Glück, konnte ich sie überzeugen und seither läuft es anders, aber deutlich besser für alle Beteiligten.
Keineswegs geht es mir in diesem Artikel darum immer weniger Zeit als Lösung für den Arbeitskräftemangel zu propagieren, es geht mir eher um ein Umdenken generell.
Es muss auch nicht immer die Zeit sein, anhand derer man die Arbeitsleistung bemisst und es kann aber auch sein, dass eine gewisse Flexibilität zeitlicher Art, zu besserer Performance und stabilerer Zugehörigkeit führen kann.

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